DANKBAR 1: So ein Tag

Kurze Weihnachtsgeschichte über die Kraft des Lächelns
© Britta Stender | Wortopolis Kurzgeschichten

 

Es war mal wieder so ein Tag.

Nachdem die Sonne sich spät und widerwillig über den Horizont gehievt hatte, blieb sie schmollend hinter trüben Wolken versteckt, harrte dort kurz aus und verschwand dann hastig wieder. Wie ein Partygast, der nur aus Verpflichtungsgefühlen und weil er keine glaubwürdige Ausrede gefunden hatte, zur Party erschienen war. Zurück blieb triste Dunkelheit, in der all die Ereignisse des Tages freudlos glimmten. Auf der Welt Kriege und Hassreden, Angstmache und Protestwahlen. Im Kleinen nervende Missgeschicke, kräftezehrende Konflikte, Sorgen.

Es war mal wieder so ein Tag.

 

Mikkel arbeitete sich die Straße entlang durch Wind und Regen, der mit feinen Nadelstichen sein Gesicht malträtierte. Er zog seine Kapuze ein wenig tiefer. Für eine Mütze war es viel zu warm. Klimawandel. Den gab’s ja auch noch.

Eine vermummte Gestalt in einem Hauseingang kauerte sich zusammen, einige vollgestopfte Plastiktüten um sich herum. »Arme Sau«, dachte Mikkel. In seiner Jackentasche fand er eine Zwei-Euro-Münze und warf sie in den durchweichten Pappbecher, der im Regen stand. Keine Reaktion. Mikkel schaute etwas genauer hin. Ignorierte ihn die Person, schlief sie oder war sie tot? Er traute sich nicht nachzuschauen und ging eilig weiter. Was für ein Handel! Statt eine Zwei-Euro-Beschwichtigung für sein soziales Gewissen ein Sack voll Schuldgefühle. Sollte er umdrehen? Den Krankenwagen rufen? Am Ende der Straße blieb er zögernd stehen und blickte zurück. Eine Hand griff aus dem Bündel nach dem Becher und Mikkel atmete erleichtert auf, sich dabei unangenehm bewusst, dass die Erleichterung vor allem dem Umstand galt, sich nicht mit dem Elend eines anderen Menschen befassen zu müssen. Nun, er hatte ja auch seine eigenen Probleme, bellte es in ihm und er marschierte weiter. Wohin wusste er gar nicht. Er hatte einfach nur rausgewollt, weg von dem Gefühl, immer alle zu enttäuschen und selbst enttäuscht zu sein. Weg von Vorwürfen, Wut und Rechtfertigung.

 

»Frohe Weihnachten!« Eine junge Frau mit einem leuchtend bunten Regenschirm nickte ihm im Vorbeigehen mit einem strahlenden Lächeln zu. Irritiert und seltsam berührt sah er ihr nach. Aus dem Augenwinkel bemerkte er, wie eine Lichterkette einen Anflug von glitzernder Heimeligkeit in den dunklen Regennachmittag brachte. Sah ein Pärchen, das sich tuschelnd und lachend aneinanderschmiegte. Hörte einen Fetzen Weihnachtsmusik. Mikkel ging weiter. Nachdenklich.

Bremsen quietschten. Ein Auto kam Zentimeter vor ihm zu stehen, kam ihm so nahe, dass es ihm schier die Luft aus den Lungen quetschte und einen Gedanken in seinen Kopf presste: »Ich könnte tot sein.« Dann wäre er heute Morgen das letzte Mal aufgewacht. Er hätte seine Frau das letzte Mal gesehen, mit seinem Sohn das letzte Mal gesprochen. Und worüber?! Er hatte sich darüber aufgeregt, dass der seine Jacke wieder nicht aufgehängt hatte, dass seine Frau ihn mit ihrem vorwurfsvollen Blick angesehen hatte, wie so oft in letzter Zeit. War seit Wochen ungenießbar gewesen, weil sein Job, der ihm ohnehin keinen Spaß brachte, auf der Kippe stand. Hatte vorhin wortlos die Wohnung verlassen, weil er sich mit seiner Frau über das Schmücken des Weihnachtsbaumes gestritten hatte. Was für Unwichtigkeiten!

Er sah die Hand vor sich, die sich aus dem Menschenbündel zum aufgeweichten Pappbecher gestreckt hatte. Fühlte jetzt statt Schuld Dankbarkeit in sich aufwallen. Wie gut er es hatte! Warum war es so schwer, das im Alltag zu sehen? Dankbar zu sein, dass er morgens in einem trockenen Zuhause aufwachte und nicht auf der Straße oder in einem Kriegsgebiet. Dass es in seinem Leben Menschen gab, die ihm am Herzen lagen. Dass er genug zu essen hatte und aus dem Wasserhahn sauberes Wasser kam. Dass er an einem Ort lebte, wo eine junge Frau frei war, einen Wildfremden mit einem Lächeln zu beschenken. Wie kam es, dass ihm das nie bewusst und er dafür ständig unzufrieden war?

 

Eine Hand legte sich auf seine Schulter. »Oh mein Gott. Geht es Ihnen gut? Haben Sie gar nicht gesehen, dass die Ampel rot war?« Mikkel holte Luft. Sein Organismus nahm die Arbeit wieder auf, pumpte das Blut durch die Adern, versorgte sein Gehirn mit Sauerstoff. »Es tut mir leid«, brachte er hervor. »Vielen Dank. Sie haben mir das Leben gerettet. Ich danke Ihnen. Sie sind mein Weihnachtsengel.« Mikkel packte die Hand des älteren Herrn, dessen Gesicht man hinter dem weißen Rauschebart kaum erkannte, und schüttelte sie heftig. Dann drehte er sich um und rannte zurück.

Als er beim Menschenbündel anlangte, sagte er: »Hey, hallo, alles in Ordnung bei Ihnen?« Ein misstrauisches Gesicht lugte unter einem umgelegten Schlafsack hervor. »Schlafen Sie heute doch mal im Trockenen und essen was. Es ist nicht viel, aber vielleicht haben Sie mal eine gute Nacht, ein paar gute Momente, ja? Kommen Sie. Ich zahle Ihnen ein Essen und ein Zimmer für die Nacht.«

 

Eine Stunde später war Mikkel sich bewusst, Geld ausgegeben zu haben, das eigentlich für etwas anderes vorgesehen war. Geld, das er nicht wirklich übrig hatte. Trotzdem grinste er. Der Regen erfrischte sein Gesicht. Es war wunderbar, dass er das fühlen konnte, dass ein trockenes, warmes Zuhause auf ihn wartete. Was für ein Geschenk! Das größte Weihnachtsgeschenk aber war, an die Kraft eines ehrlichen Lächelns erinnert worden zu sein. Daran, wie ein schlichter Gesichtsausdruck aus einem Impuls der Freude, des Mitgefühls oder der Liebe heraus den dunkelsten Tag aufhellen konnte.

Er hatte ganz vergessen, dass er selbst diese Wunderkraft besaß.

Es war mal wieder so ein Tag.

Ein Weihnachtstag.


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