Ich bin eine Indie-Autorin von nicht-erotischen Büchern. Jedenfalls bislang! Denn angesichts des Erfolgs meiner erotisch schreibenden Kolleg:innen frage ich mich, ob ich nicht um des schnöden Mammons willen doch ein neues Pseudonym brauche. Dolly Dick, zum Beispiel. Und dann Titel, die Wörter wie „Begehren“ und „Leidenschaft“ oder „Bad Boys“ enthalten, alles markiert mit Hashtags wie #dickepenisse oder #zursachebaby. Vorher will ich das alles aber erstmal wirklich verstehen. Was hat es mit dem Erfolg erotischer Literatur auf sich (Mr. Grey lässt grüßen)? Warum ist achaischer Sex in sogenannten zivilisierten Zeiten noch immer so ein Verkaufsschlager? Und was macht gute Erotik-Bücher aus? Dolly Dick ermittelt!
Inhalte:
2. Uiuiuiuiui: Sex-Szenen in der Literatur
3. Was dem Mann sein Porno ist der Frau ihr Erotik-Roman
4. Erotik, Romantasy und Fantasy – träum‘ dich weg
Freud und der Sexualtrieb
Dolly Dick hat tief geschürft und ist in das Psychoanalyse-Modell von Siegmund Freud abgetaucht. Dass der gute Freud sehr eifrig jedes Verhalten auf den Sexual- oder Selbsterhaltungstrieb zurückführte, haben wahrscheinlich viele schon einmal gehört. Jeder Turm im Traum wird da zum Phallus-Symbol und jedes Gefäß zur Vagina.* Ist der Sexualtrieb nun tatsächlich so wichtig? Alleine aus biologischer Sicht ist es natürlich absolut schlüssig, dem Sexualtrieb im Sinne der Arterhaltung eine immens wichtige Rolle in der Existenz zuzusprechen. Leben will sich vermehren und das Mittel dazu ist Sex. Tataa, so einfach ist das. Aber warum ist Sex für die einen dann (zumindest in der subjektiven Wahrnehmung) wichtiger als für die anderen? Hier finde ich Freuds Persönlichkeitsmodell ganz hilfreich für eine erklärende Theorie. Er unterteilt das Bewusstsein in einen unbewussten Teil (Es), einen vorbewussten (Ich) und einen bewussten (Über-Ich). Die potenziellen Leser von Dirty Dolly haben theoretisch eine sehr liebevolle Beziehung zu ihrem „Es“. Dort sitzt nämlich der Trieb. Dort kommt das Verlangen her. Das „Es“ feiert das Lustprinzip, hemmungslos, euphorisch, voller Hingabe. Eher nicht zu Dollys Zielgruppe zählen dagegen die Leute mit einem machtvollen Über-Ich. Denn hier sind das Gewissen, moralische Vorstellungen und jede Form von Idealismus verankert. Das Ich befindet sich in der undankbaren Mitte und darf vermitteln:
Es: Ich will dicke Penisse!
Über-Ich: Ich will Sudoku! Oder in eine Ausstellung gehen. Oder die Wohnung aufräumen und die Steuererklärung machen. Ordnung ist gut. Ja, und dann will ich Sport machen und ein gesundes, frisches Essen kochen. Und danach auf die Demo für Menschenrechte gehen.
Es: Ich will dicke Penisse!
Ich: Ähm, ja, das passt ja nun nicht ganz so gut zusammen. Aber Sport und gutes Essen und Ordnung und Menschenrechte – das hört sich schon wirklich vernünftig an.
Es: Laaaangweilig! Ich will Sex! Oder einen Sex-Film!
Über-Ich: Ich will keinen Sex-Kram. Ich will Reinheit, Kultur, Höheres, mich engagieren und die Welt verbessern!
Es: Ich will Pornos. Mit dicken Penissen! Und Arsch-Sex! Hehehehe …
Über-Ich: Iiiiiih! Sowas tut man doch nicht. Ich gehe jetzt ins Museum! Und danach räume ich auf. Und dann mach‘ ich Sport und gehe zur Demo.
Es: Ich will Erregung und Herzklopfen und ganz woanders sein. Es muss heiß und spannend sein. Mit einem richtigen Bad Boy und Sixpack und ganz viel Schweinkram. Jetzt. Jetzt. Jetzt.
Ich: Mmh. Jetzt wird mir auf einmal ganz warm. Aber so einfach geht das nicht. Ich habe Verpflichtungen. Es gibt Gepflogenheiten, andere Leute. Ich bin ja auch ein zivilisierter Mensch, nicht wahr? Darauf muss ich Rücksicht nehmen. Aber vielleicht könnte ich ja ein Buch lesen. Ein Buch ist unauffällig. Und lesen ist ja auch eine gebildete Aktivität, fast schon wie eine Ausstellung zu besuchen. Dolly Dick hat da doch gerade etwas Neues herausgebracht: „Passion Desires“ …
Daraus folgt THESE 1: Die große Masse der Menschheit hat ein sehr dominantes Es.
Uiuiuiuiui: Sex-Szenen in der Literatur
Von den sogenannten Groschen-Liebesromanen aus dem Bahnhofskiosk hat man ja meistens schonmal auf irgendeinem Wege gehört, mit Begriffen wie Luststab oder -grotte oder ähnlich bemüht poetisch umschreibenden Worten. Wenn ich hier von Erotik-Roman schreibe, meine ich allerdings die Werke, bei denen das #zursachebaby voll ins Schwarze trifft. Pulsierende Schwänze, feucht glänzende Eicheln, geschwollene ‚Perlen‘ und immer wieder das beliebte gemeinsame ‚über die Klippe stürzen‘ als Metapher für den unsagbar befriedigenden Orgasmus. Seitenlange Beschreibungen von Sexualakten in einer Detailgenauigkeit, die der Anschaulichkeit eines Pornofilms in nichts nachstehen, regulär im Buchhandel ohne Altersbeschränkung o.ä. Dass ich das erste Mal über so ein Buch ‚gestolpert‘ bin, ist tatsächlich (bezogen auf meine Lebensdauer) noch nicht allzu lange her und ich war echt ziemlich schockiert. Zur Erklärung: Ich habe über Theodor Fontane und Eduard von Keyserling promoviert, bei einem Doktorvater, der schwer begeistert war von Fontanes diskreten Beschreibungen sinnlicher Szenen. Zum Beispiel des ersten Ehebruchs in Effi Briest „‘Effi‘, klang es jetzt leis an ihr Ohr, und sie hörte, daß seine Stimme zitterte. Dann nahm er ihre Hand und löste die Finger, die sie noch immer geschlossen hielt, und überdeckte sie mit heißen Küssen.“ Fertig. Sex bei Fontane. Bei Keyserling (den mein Doktorvater schon wieder leicht trivial fand) wird es etwas deutlicher: „Einen Augenblick stand Mareile still, hob die Arme empor, als täte die Nacktheit ihr wohl, dann ging sie zu Günther hinüber, beugte sich auf ihn nieder, drückte ihren Mund auf seine Lippen, wie ein heißes Siegel und Günther, bleich vor Erregung schloß die Augen, lag da, begraben unter diesem warmen, fiebernden Frauenleibe.“ (Beate und Mareile) Von solchen Sexszenen zu Beschreibungen der Adern auf einem Penis ist es schon ein gewaltiger Sprung – da mag man meinen Schock vielleicht nachvollziehen können. Schock Nummer Zwei ereilte mich dann, als ich feststellen musste, wie populär UND gesellschaftsfähig Erotik-Literatur ist. Nichts mit dunklen Hinterstübchen und verschämten Käufen via Internet oder Verhaftungen wie beim Marquis de Sade. Nein, Erotik ist ein Verkaufsschlager und selbst Autoren wie Poppy J. Anderson, die ganz ohne Sex-Szenen schon über 1.000.000 Bücher verkauft haben, integrieren mittlerweile explizite Darstellungen in ihre Werke. Der Bedarf regelt das Angebot! Leute, ich hatte echt nicht die geringste Ahnung, wie groß dieser Bedarf ist.
THESE 2: Sex ist überall, frei und ohne Altersbeschränkung erhältlich und zwar, weil danach verlangt wird.
Was dem Mann sein Porno ist der Frau ihr Erotik-Roman
Ich hätte viele dieser Bücher intutiv tatsächlich eher Porno-Buch als Erotik-Roman genannt und finde den Begriff ‚Hausfrauenporno‘ alles andere als abwegig. Doch was ist eigentlich der Unterschied zwischen Porno und Erotik? Und wäre das Erotik-Genre in der Literatur auch noch so populär, wenn es Porno hieße? Der Begriff ‚Erotik‘ klingt schließlich noch deutlich gesellschaftsfähiger und hat durchaus einen Beiklang von Kunst und Ästhetik. Tatsächlich sind die Grenzen fließend und alleine die explizite Darstellung des Aktes macht etwas noch nicht zur Pornografie. Gleichwohl ist im Filmbereich all das für das frei empfängliche Fernsehen untersagt, was erigierte Penisse, Detailaufnahmen der weiblichen Geschlechtsorgane und Nahaufnahmen des Aktes enthält. Rechtlich ist es jedoch erst dann Pornografie, wenn die ‚Darstellungen des Sexuellen den Menschen zum bloßen, auswechselbaren Objekt geschlechtlicher Begierde degradieren und ohne Sinnzusammenhang mit anderen Lebensäußerungen stehen‘ (vgl. StGB §184 und ein entsprechendes Urteil des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 28.3.74, Wikipedia Artikel „Pornografie“). Demnach ist selbst der Erotik-Roman à la #zursachebaby per definitionem keine Pornografie, trotz ausufernder ‚Nahaufnahmen‘ des Sexualaktes. Und genau hier liegt auch der Grund dafür, warum frau in der Regel den erotischen Roman dem Pornofilm vorzieht. Paartherapeut und Sexualforscher Prof. Dr. Ulrich Clement erklärt in einem Interview mit der ZEIT „Männer fantasieren anders als Frauen. Sie reagieren viel stärker auf optische Schlüsselreize. Frauen finden es erotischer, Geschichten zu hören. Männer reagieren auf das, was sie sehen.“ Für die weibliche Erregung ist es nach Clement wichtig wie der Mann sich verhält, was er sagt, wie er guckt. Es ist wichtig, dass sich frau, die sich in der Regel mit der weiblichen Hauptfigur identifiziert (ebenso wie im Pornofilm übrigens), nicht als austauschbares Objekt wahrnimmt. Der Sex muss geradezu unbedingt in einem Sinnzusammenhang mit anderen Lebensäußerungen stehen. Erst dadurch wird er wirklich erregend.
THESE 3: Erotisch ist, wenn die Charaktere Subjekte und keine Objekte, individuell und nicht austauschbar sind. Und genau darauf stehen (im Unterschied zu Männern) Frauen! Durch dieses gezielte Begehren fühlt sich frau wahrgenommen und wichtig, woran die Leserin partizipiert. Und dieses Gefühl der eigenen Bedeutung scheint proportional dazu zu steigen, wie sehr der begehrende Mann die klassisch männlichen Attraktivitätsmerkmale erfüllt: reich, groß, stark, dominant.
Erotik, Romantasy und Fantasy – träum‘ dich weg
Was aber ist daran eigentlich so toll, erregt zu sein? Die Antwort ist … Trommelwirbel … ein neurochemischer Rausch-Cocktail! Der Neurotransmitter Dopamin aktiviert das limbische System, auch Belohnungszentrum genannt. Und schwupps, werden die gleichen Hochgefühle ausgelöst wie bei Heroin- oder Kokain-Konsum. Dass das Lesen einen suchtartigen Charakter annehmen kann, ist also gar nicht mal so weit hergeholt. Ohne an dieser Stelle auf entsprechende Forschungen verweisen zu können (meine Recherche-Kapazitäten sind gerade etwas erschöpft), bin ich mir außerdem ziemlich sicher, dass vor allem die Frau, die Emotionen in der Geschichte real miterlebt. Bei Liebes- und Erotik-Romanen ist das dann so eine Art psychosomatische Verliebt- und Geilheit. Besonders spannend finde ich aber, dass bei sexueller Erregung bestimmte Hirnareale kaum noch Aktivität zeigen. Und zwar die, in denen unsere Triebkontrolle sitzt und die dafür sorgt, dass wir uns nach den erlernten sozialen und moralischen Regeln richten. Bye, bye „Über-Ich“ – ich genieße jetzt das Leben, wild und hemmungslos! Und dazu kommt natürlich noch These 3: Wir fühlen uns durch die Identifikation mit der Protagonistin nicht nur selbst verliebt, sondern auch geliebt, begehrt, bedeutsam.
Achtung, kurzer Schwenk weg von der Neuro-Biologie hin zur Geisteswissenschaft. In meiner Promotion geht es nämlich um Fest und Alltag in der Literatur und damit eigentlich auch genau um diese Thematik. Denn die gesteigerte Erregung funktioniert als Unterbrechung des Alltags. Es ist eine Aussetzung des Gewohnten und damit auch eine Flucht vor Stress, Druck oder Langeweile. Je höher der Erregungs-/ Spannungslevel, umso stärker ist das ‚festliche‘ Empfinden (gesteigerte Lebensintensität, Rausch). Dabei ist gerade der Bruch mit den alltäglichen Regeln und Normen ein Kennzeichen wie auch eine Vorbedingung für das Fest-Erleben. Heißer, stundenlanger Sex (Erotik), fantastische Wesen à la Vampir, Elfen & Co. (Fantasy), beides zusammen (Romantasy) oder Mord und Totschlag (Krimi) haben so ganz und gar nichts mit schmutzigen Socken, dem Büro-Arbeitsplatz oder Zähneputzen zu tun. Die Grenzen der Alltäglichkeit werden durchbrochen. Das schafft ein Ventil für aufgebaute Spannung, ähnlich wie exzessives Feiern, auspowernder Sport oder befriedigender Sex, allesamt Aktionen mit hoher Empfindungs- oder Erlebnisqualität. Deswegen bezeichnet Helmut Koopmann Kunst auch als Medium des gescheiterten Abenteurers.** Die realen Abenteuer bleiben aus? Dann flüchten wir uns eben in die Fiktion. Auch gut. Oder zumindest besser als gar nichts.
THESE 4: Erotik-Romane funktionieren wie Kurzurlaube von der Realität, wie spannungslösende Aktivitäten, wie Streicheleinheiten für das Ego und als Ersatz für real nicht Erlebtes. Kein Wunder, dass sich das verkauft!
Tja, wie ist es bei dir? Was liest du, um den Alltag mal hinter dir zu lassen? Oder hast du noch etwas anderes zu dem Thema "Sex sells" zu sagen? Dann freue ich mich auf deinen
Kommentar!
Falls ein Link mal nicht mehr funktionieren sollte, freue ich mich über eine kurze Info per Mail!
*„Alle in die Länge reichenden Objekte, Stöcke, Baumstämme, Schirme (des der Erektion vergleichbaren Aufspannens wegens!), alle länglichen und scharfen Waffen: Messer, Dolche, Piken, wollen das männliche Glied vertreten. […] Dosen, Schachteln, Kästen, Schränke, Öfen entsprechen dem Frauenleib, aber auch Höhlen, Schiffe und alle Arten von Gefäßen.“ (Freud: Die Traumdeutung, Frankfurt a.M.: 1991, S. 355)
**Helmut Koopmann: „Entgrenzung. Zu einem literarischen Phänomen um 1900.“ In: R. Bauer u.a. (Hg.): „Fin de siècle. Zu Literatur und Kunst der Jahrhundertwende.“ Frankfurt a.M.: 1977, S. 73-92.
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